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NAXOS - Das Dionysos-Heiligtum von Yria, ein wichtiges Heiligtum auf der Kykladeninsel

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2017-09-26 2022-11-24 26.09.2017
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Dionysos-Tempel Iria Naxos

Zu den bedeutenden archäologischen Ausgrabungen auf der Kykladeninsel(1) Naxos gehört neben dem Apollontempel, dessen berühmtes Tempeltor auf keiner Ansicht von Naxos fehlen darf, und neben dem Demeter-Heiligtum von Sangri auch das Dionysos-Heiligtum von Yria, gut 3 km südlich der Inselhauptstadt in der Ebene von Livadi gelegen. Bereits in den 1920er Jahren wurde man auf dieses Gebiet aufmerksam, als der Archäologe und Ehrenbürger der Insel Naxos, Gabriel Welter (1890-1954), „zwei vollständige, aber leicht unterschiedliche Säulentrommeln und ein großes archaisches ionisches Kapitell“ (Aenne Ohnesorg) entdeckte, die dort in einem Brunnen verbaut waren. Man vermutete sofort, dass diese Bauglieder zu einem größeren Bauwerk gehören müssten. Allerdings vergingen gut 60 Jahre, bevor die Bauforschungen in diesem Gebiet einsetzten und Archäologen der Universität Athen sowie Mitarbeiter des Lehrstuhls für Baugeschichte, Historische Bauforschung und Denkmalpflege der Fakultät für Architektur der Technischen Universität München mit den Forschungsarbeiten vor Ort begannen. Zunächst mit wenig Erfolg, dann in der zweiten Kampagne von 1986 mit größerem Erfolg, als man in geringer Entfernung vom ersten Grabungsort „das Fundament der Prostase, die große Marmor-Türschwelle und die Adytonwand des Tempels (IV)“ (Ohnesorg) freilegte. Insgesamt 14 Grabungskampagnen sollten sich bis 1999 anschließen und eine überaus erfolgreiche Kooperation zwischen deutschen und griechischen Forschern umfassen. Von griechischer Seite waren an diesem Projekt Vasilis Lambrounidakis, Eva Simantoni-Bournia, Manolis Korres (der sich vor allem später bei dem großen Restaurationsprojekt „Akropolis“ einen Namen machte) und viele griechische und ausländische Archäologiestudenten beteiligt, von deutscher Seite waren es vor allem Gottfried Gruben (1929-2003), Aenne Ohnesorg und Martin Lambertz. Finanziert wurde dieses großartige Projekt durch die Universität Athen und die Gerda Henkel-Stiftung, Düsseldorf. Eines von vielen Beispielen erfolgreicher deutsch-griechischer Zusammenarbeit in der Archäologie!(2)

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Dionysos-Tempel Iria Naxos

Man hatte ein Heiligtum südlich der Inselhauptstadt, der Chora von Naxos entdeckt, dessen Geschichte sogar bis ins 2. Jh. v. Chr. zurückführt und auch in antiken Quellen erwähnt wird. Athenaios beispielsweise, ein in Naukratis geborener und in Alexandria und Rom lebender Autor während der Herrschaft der severischen Kaiser, berichtet, dass hier in Yria der Gott Dionysos als Dionysos Meilichios verehrt wurde (Athenaios 78 c). Allein reicht die Quellenüberlieferung bei Weitem nicht aus um herauszufinden, welcher Gottheit die Anlage geweiht war. Dafür müssen auch kräftige archäologische Argumente herangezogen werden, die nur anhand von Funden zustande kommen können. Erst durch den Fund von Statuenresten mit Brustpanzern und der Analyse dieser Funde durch den Athener Archäologen Professor Lambrounidakis kam man der Lösung des Rätsels, welcher Gottheit dieses Heiligtum wohl geweiht gewesen war, auf die Spur. Vor allem die Panzerstatue, der größere Torso also, wies mit ihren Reliefdarstellungen eindeutig auf Marcus Antonius (83-30 v. Chr.) hin, „der sich als neuer Dionysos inszenierte“(3), woraus man schloss, dass das Heiligtum dem Dionysos geweiht war. Die Statue des Marcus Antonius, die zudem in der linken Hand eine Mänade gehalten hatte, wie sich im Zuge der Ausgrabungen weiter herausstellte, stand demnach in der Cella des Tempels „vor dem Eingang zum Adyton“ und war eine überlebensgroße Kultstatue. Dies ist allein deshalb von Bedeutung, weil der Gott Dionysos der Hauptgott der Insel Naxos war und hier inmitten der fruchtbaren Ebene der Flussmündung des Byblos sein Heiligtum hatte und offenbar nicht in der Inselhauptstadt. Die landschaftliche Umgebung dieser Ausgrabungsstätte spricht im Übrigen voll und ganz für die Überlieferung, hier ein Dionysosheiligtum anzunehmen: Inmitten von Olivenbäumen und Weinstöcken in einem fruchtbaren und feuchten Schwemmlandgebiet kann man sich gut einen Fruchtbarkeitskult des Gottes Dionysos vorstellen. Wir dürfen nämlich nicht außer Acht lassen, dass Dionysos auch auf dem griechischen Festland zunächst in Eleutherai an der Grenze zwischen Attika und Böotien in ländlicher Umgebung verehrt wurde, bevor sein Kult dann unter den Peisistratiden, dem Tyrannengeschlecht des archaischen Athen, an den Südfuß der Akropolis verpflanzt und zu einem städtischen Kult wurde.

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Dionysos-Tempel Iria Naxos

Den Ausgrabungen zufolge war der Kern des Dionysosheiligtums hier in Yria zunächst „eine schlichte spätmykenische Kultstätte“, wie die Bauforscherin Aenne Ohnesorg bemerkt. Ein Fruchtbarkeitskult unter freiem Himmel am Ende des 2. Jhs. v. Chr., dessen spärliche Überreste sich „unter den späteren Opferstätten“ befinden. Und dazu noch gut 3 km „von der ummauerten mykenischen Stadt entfernt“, wie Gottfried Gruben(4) betont. In diese Frühzeit gehört wohl auch „ein Marmorbecken für Opfergaben“, das Knochenreste und auch geopferte Keramik enthielt und sich „auf einem kleinen Hügel des Marschlandes (befand), an dessen Stelle sich die späteren Tempel befanden“(5) Der Inhalt dieses Marmorbeckens gibt Anlass für eine Datierung der Knochenreste in die spätmykenische Zeit, während die keramischen Reste auch eine Fortführung des Kultes in den sog. dunklen Jahrhunderten belegen und damit offensichtlich eine gewisse Kulttradition nahelegen.

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Dionysos-Tempel Iria Naxos

Über die Ausgrabungen im Einzelnen haben Gottfried Gruben und Vasilis Lambrounidakis(6) ausführlich publiziert, begonnen 1987 und über die Jahre weitergeführt. In den Grabungskampagnen konnten die Ausgräber neben dem schon erwähnten spätmykenischen Kern des Heiligtums insgesamt vier „ineinanderliegende Tempel“ freilegen, außerdem, wie Aenne Ohnesorg schreibt, „eine Anlage im Westen, die sich als eine Kombination von Brücke, Propylon und Hestiatorion herausstellte, und die Umhegung des Temenos“. Ein beachtliches Ergebnis der Ausgrabungen, das auch für die Geschichte der Insel Naxos wichtige Erkenntnisse liefert.

Obwohl „die Weiterführung des Kults (…) durch Keramik belegt (ist)“, wie Gottfried Gruben ausdrücklich betont, können wir nicht im Einzelnen sagen, welches Aussehen dieses, dem Dionysos geweihte, Heiligtum hatte. Erst aus dem ausgehenden 9. Jh. v. Chr. oder, wie Gruben meint, „am Anfang des 8. Jahrhunderts v. Chr.“ gewinnen wir eine erste, mehr ins Detail gehende Vorstellung von dieser Kultstätte, also in einer Zeit, nachdem ionische Griechen im ausgehenden 2. Jh. v. Chr. auf die Insel gekommen waren und die einheimische Inselbevölkerung offenbar zurückgedrängt hatten. Das Heiligtum des Dionysos bekam jetzt ein architektonisches Gesicht, indem die Griechen einen 5 x 10 m großen Kultbau „aus Holz und Lehmziegelsteinen auf einem Feldsteinfundament“ erbauten, „einen Oikos (…) mit flachem Erddach, drei Mittelstützen und einem Opfertisch“, wie Gruben formuliert, oder eine „ca. 5 x 10 m große ‚Kiste‘ inmitten der Sumpfebene“, wie Aenne Ohnesorg schreibt und weiter ausführt: „Im Inneren fanden sich zwei Stützenbasen, die das Flachdach trugen (...). Der Zugang an der südlichen Schmalseite blieb für alle Nachfolger verbindlich.“ Auf jeden Fall ein sehr einfaches, fast spartanisch zu nennendes Gebäude. Nach Auskunft der Ausgräber war dieser Bau „mit einer ovalen Steinpackung umgeben“ und der Fluss „durch eine Ufermauer gesichert“. Außerdem gab es eine Eschara, einen Brandopferaltar oder, wie Gruben formuliert, „eine Feuerstelle mit verbrannten Knochen“, also ein eindeutiger Hinweis darauf, dass hier Opfer zelebriert, ja sogar gemeinsame Opfermahle abgehalten wurden, wobei sich die Kultgemeinde „wahrscheinlich um den Tempel, der im Inneren neben Votiven ein kleines Kultbild oder Idol enthalten haben könnte“, versammelte. Gruben vergleicht die Situation in Yria mit der Ausgrabungsstätte von Kommos(7) auf Kreta, einer „Siedlung an der Südwestküste der Messara-Ebene“, die ab etwa 1900 v. Chr. bestand und um 800 v. Chr. einen bis um 600 v. Chr. in Betrieb befindlichen sog. Tempel B hatte.

Die Situation in diesem dionysischen Kultbezirk änderte sich um die Mitte des 8. Jhs. v. Chr., als eine räumliche Erweiterung der Anlage auf 130 m² vorgenommen wurde. Die Ausgräber bezeichnen diesen Bau als »Tempel II« und stellten fest, dass nunmehr „drei Reihen von fünf runden Holzstützen (…) das flache Dach (trugen)“ und den Innenraum somit „in vier Schiffe“ teilten. Die 75 cm starken Wände dieses Baus waren jetzt aus Granit. Sein Innenraum war ursprünglich mit fünfzehn Marmorplatten ausgelegt, von denen sich zwölf Platten erhalten haben. Außerdem gab es jetzt Bänke für gut hundert Teilnehmer, außerdem im hinteren Teil einen Brandopferaltar, der genau „in der Mittelachse“ lag. Dies zeigt, dass sich die Kultgemeinde vergrößert hatte und „nunmehr (…) im Tempelraum das rituelle Opfermahl feierte“ (Gruben) – und das zu einer Zeit, als sich das Leben in der Polis Naxos offensichtlich konsolidiert hatte und die Polis gemeinsam mit Chalkis 735 v. Chr. „die erste griechische Kolonie auf Sizilien, Naxos bei Taormina“ (St. Brenne) gegründet hatte. Ob der Grund für diesen Neubau u. a. in einer Überschwemmung des Gebietes und infolgedessen in einer Zerstörung oder Beschädigung des Tempels I lag, sei dahingestellt.

Eine weitere Neuerung der Kultanlage datieren die Ausgräber in den Beginn des 7. Jhs. v. Chr. und stellen eine Erweiterung der Anlage von Tempel II fest. Ein Prostylos, eine viersäulige Vorhalle, wurde jetzt dem Kultbau vorgesetzt, wodurch seine Front eindeutig „als Sakralbau“ (Gruben) gekennzeichnet ist. Bei dieser Umbaumaßnahme wurden, wie die Bauforscherin Aenne Ohnesorg schreibt, „die Wände des Vorgängers (teilweise) übernommen, aber die vier Schiffe (…) (wurden) auf ‚kanonische‘ drei reduziert“. Durch die viersäulige Vorhalle ist der Bau eindeutig als Tempel zu bezeichnen und damit „einer der ersten Prostyloi der griechischen Welt“. Wie der Ausgräber Gruben bemerkt, war zudem „der Innenraum neu geordnet“ worden, indem „zwei Säulenreihen nunmehr die Mitte frei(gaben), in der die Eschara zwischen vier Säulen wahrscheinlich durch eine Laterne im Dach besonders betont wurde“. Darüber hinaus führt Gruben aus: „Die hölzernen Säulen standen auf Marmorbasen und trugen wohl schon entsprechend gestaltete, aus dem konstruktiv notwendigen Sattelholz entwickelte Kapitelle. Das flache Dach wurde von marmornen Wasserspeiern entwässert. Die übersichtliche, dreischiffige Komposition des Innenraums, die für die Zukunft verbindlich werden sollte, und die ausdrucksvolle Gestaltung der bisher auf den konstruktiven Zweck beschränkten Bauglieder kennzeichnen den Schritt von der funktionellen Architektur des 8. Jahrhunderts v. Chr. zur zunehmend ästhetisch anspruchsvollen Baukunst des 7. Jahrhunderts v. Chr., die aber am zierlichen Holzbau und am bescheidenen Format der geometrischen Epoche festhält.“(8) Somit hatte man hier in Yria auf Naxos einen wichtigen Schritt zum Tempelbau Griechenlands im beginnenden 7. Jh. v. Chr., weswegen der Tempel III als ein wichtiges Bauglied in der Entwicklung des griechischen Tempels zu betrachten ist. Also war ein Anfang in Richtung Tempelbau gemacht!

Um 580 v. Chr. wendete sich das Blatt in der Architekturgeschichte dieses Kultbaus erneut. Tempel IV, wie ihn die Ausgräber nennen, wurde als Nachfolger des zerstörten Tempels III erbaut und „zeigt die konsequente Weiterführung der Grundform – dreischiffiger Oikos mit Prostasis –  und zugleich den Sprung zum monumentalen Marmorbau“, wie der Bauforscher Gruben konstatiert. Der neue Tempelbau, „der die früheren Bauten umhüllte“ (Ohnesorg), misst nun 13 x 29 m und besaß nun Säulen aus Marmor, sowohl im Frontbereich als auch im Innenraum, acht Säulen innen und vier Säulen an der Front, aber „auch die Türwand samt der Laibung und die Dachhaut“ waren jetzt aus Marmor. Die Säulenhöhe betrug 7,20 m, ihr Durchmesser lag bei 80 cm. Auffallend ist indes, dass die Anzahl der Kanneluren noch nicht auf eine Einheitszahl festgelegt war, vielmehr an den Frontsäulen bei 24 Kanneluren pro Säule lag, bei den Cellasäulen allerdings erheblich schwankte. Es ist ein Monumentalbau mit einer Säulenfront in inselionischer Ordnung, ein früher ionischer Prostylos, also ein Antentempel mit vorgestellter Säulenhalle an der Eingangsfront, dessen Prachttür „in das Innere mit einem wohl offenen Dachstuhl für das geneigte Dach“ (Ohnesorg) leitet. Das Tempeldach bestand aus lichtdurchlässigen Marmorziegeln, nach Gruben eine Übernahme vom griechischen Festland, allerdings „offenbar von Anfang an in Marmor ausgeführt und mit einem marmornen Dachgebälk kombiniert“, eine Arbeit des naxischen Steinmetzes Byzes(9). Hierzu Gruben: „Diese gleichsam frische, durch kein bereits fixiertes Holzsystem vorgeprägte Umsetzung des flachen Balken- und Erddachs in eine völlig neue, in Marmor konzipierte Konstruktion aus Steinbalken, Sparren, Gesims und Satteldach erlaubte infolgedessen die Ausbildung eines originären, konsequent dem Gesetz des Steins folgenden Formenbaus, eben die »inselionische Ordnung«.“ Der wichtigste Bestandteil dieses archaischen Baus war das Adyton im hinteren Bereich, wohingegen der Marmoraltar südlich vor dem Monumentalbau lag. Viele Teile dieses Tempels IV – Kapitelle, Stylobat, Basen, Säulenschäfte, Kyma und Dach – sind erhalten, sodass der Bau relativ genau rekonstruiert werden konnte.

Interessant ist die Überlegung, ob der unfertige archaische Kouros von Apollonas, den wir unter dem Stichwort »Die unvollendeten Kouroi – Anmerkungen zur naxischen Großplastik der archaischen Epoche« behandelt und als Dionysos identifiziert haben, nicht für das Heiligtum von Yria bestimmt gewesen sein könnte. Wenn ja, hätte er innerhalb des heiligen Bezirkes seine Aufstellung gefunden, wie dies ja auch in anderen archaischen Heiligtümern Griechenlands der Fall war. Man denke etwa an den Kouros von Sounion im Athener Nationalmuseum (Athen, NM 2720)(10), der um 610 v. Chr. datiert wird und eine Höhe von 3,05 m erreicht. Er stand wie andere Kouroi auch innerhalb des Temenos des Poseidonheiligtums von Kap Sounion in Attika und war von Weitem sichtbar. Die Vorstellung, sich diesen gut 10,45 m hohen, bärtigen Koloss in dem Dionysosheiligtum von Yria vorzustellen, ist schon faszinierend!

Wir können an dieser Stelle zusammenfassend feststellen, dass „die übliche Tempelform bis zum 7. Jahrhundert v. Chr. der rechteckige Oikos“ blieb und „durch einen Vorraum erweitert werden (konnte), der sich oft zwischen Anten öffnete“ (Gruben). Unsere Vorstellung vom Oberbau eines geometrischen Tempels ist oftmals lückenhaft, da keine maßgeblichen Teile überliefert sind. Allerdings können wir mittlerweile auf über fünfzig kleine Tempelmodelle aus Ton oder Stein in Heiligtümern oder Gräbern zurückgreifen, die ein genaues Bild vom Oberbau eines derartigen Baus vermitteln. Daraus können wir beispielsweise entnehmen, dass der Antentempel mit Vorhalle um 800 v. Chr. bekannt war, wie ein durch Ornamente datiertes Modell aus Perachora (Argolis) zeigt. Die Weiterentwicklung dieses Typus vermittelt uns das Tempelmodell aus Argos um 700 v. Chr., das jetzt „eine durchgehende Standplatte, eine Vorhalle, zwei Stützen, eine durchgehende Decke und ein Satteldach (besitzt)“, wie Gruben betont, während gleichzeitig in Samos eine Modellreihe „mit Flachdach und »Zahnschnitt«, d. h. vorkragenden Deckenbalken“ einsetzt. Die Modelle wie auch die tatsächlich überlieferten Grundrisse in diversen Ausgrabungen in Griechenland belegen insgesamt, dass in der geometrischen Epoche Sakralarchitektur und Wohnbau zunächst einander ähneln. Erst im Laufe der Zeit erhielt der Tempelbau ein eigenes Gesicht, indem er größere Ausmaße bekam und infolgedessen größere Spannweiten zu überbrücken waren. Dazu werden Innenstützen benötigt, wie bereits Tempel II von Yria anzeigt. Der Hauptgrund für diese Veränderungen lag wohl in erster Linie daran, dass „die Herd- und Opfergemeinschaften“ sich vergrößerten und mehr Platz benötigt wurde. Mit dem Tempel IV in Yria der Jahre um 580 v. Chr. war dann der eigentliche Tempelbau geboren, wie wir gesehen haben, und alsbald auch die verschiedenen Bauordnungen aus der Taufe gehoben, wobei sowohl der Dionysostempel von Yria als auch der Tempel von Sangri unter dem Stichwort »Kykladische Architektur« zu fassen sind und sich letztendlich aus der Kykladenkultur des 3. Jhs. v. Chr. heraus entwickelten. Naxos, die Hauptinsel der Kykladen, spielt hierbei offenbar eine besondere Rolle, wir können sagen, seit der geometrischen Epoche sogar eine führende, indem sich hier der Tempel vom geometrischen Oikos bis zum früharchaischen Prostylos in mehreren, logisch aus den Bedürfnissen heraus entstandenen Entwicklungsstufen entfaltete. Die vier aufeinanderfolgenden Kultbauten in Yria sind hierfür ein überzeugendes Beispiel.

Jedoch müssen wir einen kleinen Wermutstropfen in die geschichtliche Entwicklung des Tempels von Yria träufeln, denn wir kennen nicht den wahren Grund, warum der Bau nie ganz vollendet wurde. Es wird zwar vermutet, dass dies mit den Ereignissen im ausgehenden 6. Jh. v. Chr. zu tun hatte, aber bewiesen ist dies nicht. Von sozialen Unruhen ist in der Überlieferung die Rede, von der Tatsache, die naxische Oberschicht und die politisch mächtige Priesterschaft hätten „der bäuerlichen Bevölkerung die Ausübung des Dionysos-Kultes untersagt (...), die ihnen doch als Fruchtbarkeitskult von so herausragender Bedeutung war“(11). Eventuell spielt auch die Machtübernahme des Tyrannen Lygdamis um 538 v. Chr. eine Rolle, der an die Macht gelangte, nachdem die aufständische Bevölkerung er die Oberschicht von der Insel Naxos vertrieben hatte und es unter Lygdamis zu grundlegenden Veränderungen auf Naxos kam. Private Stiftungen wurden verboten, die Marmorbrüche verstaatlicht und vor allem neue Prestigeprojekte ins Leben gerufen, wie der Apollontempel von Naxos, dessen aufrecht stehende Marmortür zu einem Wahrzeichen der Insel geworden ist. Doch war die Herrschaft des Lygdamis, der mithilfe der Peisistratiden von Athen an die Macht gelangt war, nicht von allzu langer Dauer, denn alsbald begannen die Auseinandersetzungen mit den Persern, die 490 v. Chr. die Insel zerstörten, wovon sich Naxos nie ganz erholen sollte. Deshalb wurde in diesem Heiligtum offenbar auch später kein einziges Bauwerk mehr errichtet.

Zum Heiligtum des Dionysos in Yria gehörte neben dem Kultbau (Tempel I-IV) auch ein sog. Hestiatorion, ein zeremonieller Bankettsaal, der „kurz nach dem Beginn des Tempelbaus“ errichtet wurde. Er lag im Westen des Grabungsgeländes und bestand aus zwei Räumen und einem Propylon. Bereits im 1. Jh. v. Chr. mussten Reparaturarbeiten an diesem Bau durchgeführt werden.

Das Heiligtum von Yria, dessen Tempel weiter genutzt wurde, bestand bis in die römische Zeit. Wir müssen dabei berücksichtigen, dass die Römer um 150 v. Chr. „nach langen kriegerischen Auseinandersetzungen“ Griechenland eingenommen und um 50 v. Chr. einen römischen Feldherrn namens Marcus Antonius als Herrn über die Kykladen eingesetzt hatten, eben jenen römischen General, der sich als »neuen Dionysos« verehren ließ und im Tempel neben dem Dionysos verehrt wurde, wie die aufgefundene Panzerstatue zeigt. Sie stellt ihn mit reliefverziertem Panzer dar und ist heute im Archäologischen Museum von Naxos zu bewundern. Auch ein Inschriftenstein wurde gefunden, auf dem eine alte Inschrift gelöscht und durch den Namen Antonius ersetzt wurde. Er diente offenbar als Basis für die Panzerstatue. Beim Tempel gab es allerdings „wegen der Instabilität des Untergrunds“ immer wieder Probleme, sodass umfangreiche Reparaturen vonnöten waren. Das betraf nicht nur den Tempel, sondern offensichtlich auch die Peribolosmauer, die um das Heiligtum angelegt worden war, sodass der gesamte Temenos eine Grundfläche von 4500 m² aufwies, also eine durchaus beachtenswerte Größe hatte. Dabei wurde bis zuletzt der ländliche Charakter dieses Heiligtums bewahrt, ein Motiv, das im Dionysoskult von Bedeutung war. Man betrachtet ihn als den Gott des Weines und der Fruchtbarkeit, als eine griechische Gottheit, die im ländlichen Griechenland beheimatet blieb, auch wenn es seit den Zeiten des Tyrannen Peisistratos ein städtisches Heiligtum am Südfuß der Akropolis in Athen gab, das zur Wiege von Tragödie, Komödie und Satyrspiel wurde. Die Stadt brachte berühmte Dichter, wie Sophokles, Aischylos und Euripides hervor, deren Werke bis in die Römerzeit von Bedeutung waren und für unsere klassische Bildung in Europa immer noch sind.

Im Laufe des 5. Jhs. oder zu Beginn des 6. Jhs. n. Chr. änderte sich die Situation im einstigen Dionysosheiligtum von Yria grundlegend. Jetzt hielt das Christentum Einzug und der Tempel wurde in eine dreischiffige Basilika umgestaltet. Allerdings gab es immer wieder Überschwemmungen, von denen die letzte große sich im 12. Jh. ereignete und offensichtlich größere Verwüstungen in diesem Areal verursachte. Deshalb entschloss man sich, die Basilika aufzugeben und die Kirche Agios Georgios „an einem ungefährdeten Ort in der Nähe“ neu zu bauen, teilweise mit Bauteilen des einstigen Tempels.

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Yria Naxos Archäologische Sammlung

Heute ist das Grabungsgelände des Dionysosheiligtums von Yria für Besucher geöffnet und als Archäologischer Park hergerichtet. Die Grundrisse der Bauten wurden entsprechend gesichert und aufbereitet, sodass der Besucher einen Eindruck von der einstigen Anlage des Heiligtums bekommt. Pläne und einige aufgerichtete Bauteile tragen zum Gesamteindruck bei.

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Yria Naxos Archäologische Sammlung

 

Anmerkungen

  1. St. Brenne, in: K. Brodersen (Hrsg.), Antike Stätten am Mittelmeer, Darmstadt 1999, 355 f. s. v. Naxos.
  2. https://www.baufo.ar.tum.de/forschung/abgeschlossene-forschung (Aenne Ohnesorg).
  3. https://40jahre.gerda-henkel-stiftung.de/1990.
  4. G. Gruben, Klassische Bauforschung. Mit einem Vorwort von Wolf Königs, München 2007, 79.
  5. https://de.wikipedia.org/wiki/Heiligtum_von_Yria.
  6. V. Lambrounidakis/G. Gruben, Das neuentdeckte Heiligtum von Iria auf Naxos, AA 1987, 569-621. G. Gruben, Die Entwicklung der Marmorarchitektur auf Naxos und das neuentdeckte Dionysos-Heiligtum in Iria, Nürnberger Blätter zur Archäologie Nr. 8, 1991-92, 41-51.  G. Gruben, Naxos und Delos, JdI 112, 1998, 261-416.
  7. https://de.wikipedia.org/wiki/Kommos (mit Lit.).
  8. G. Gruben, Klassische Bauforschung, München 2007, 80 Abb. 35.
  9. A. Ohnesorg, Inselionische Marmordächer, 1993.
  10. W. Fuchs, Die Skulptur der Griechen, München 1969, 26 ff. Abb. 10.
  11. http://azalas.de/blog/?page_id=406 (Der Dionysos-Tempel in Iria).